
Bereits im Jahr 1924 wurde der erste Behindertenverein in Österreich gegründet. Doch aufgrund diverser Sachverhalte fühlten sich damals einige Betroffene im Vergleich zu Sehbehinderten und Gehörlosen unterrepräsentiert. Daher entstand schließlich, vor genau 100 Jahren im März 1925, als Unterorganisation der erste Verein für Menschen mit Körperlicher Behinderung– die „Erste österreichische Krüppelarbeitsgemeinschaft“
Die Zwischenkriegszeit war eine überraschend aufregende Zeit für Menschen mit Behinderung. Der erste Weltkrieg hatte vor einigen Jahren geendet und der zweite Weltkrieg war noch nicht absehbar. Durch die vielen Kriegsversehrten, die fortan mit einer Behinderung leben mussten, wurde es letztlich zu einer absoluten Notwendigkeit, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.
Die vielen Betroffenen fühlten sich vermehrt politisch, gesellschaftlich und von der Gesetzgebung ausgegrenzt. Aus dieser Situation entstand schließlich der erste Behindertenverein in Österreich – der Selbsthilfebund der Körperbehinderten Österreichs. Doch der Verein hatte trotz großer Ambitionen einige Startschwierigkeiten. Zum einen wurden sehr schnell viele verschiedene Arten von Behinderung in einem Verein integriert, was es schwer machte, eine einheitliche Linie zu finden. Zum anderen war gerade die Sektion der Kriegsveteranen stark vertreten.

Bildquelle: Universität Innsbruck, BiDok
Ein Jahr nach der Gründung, im Jahr 1925, wurde aufgrund von wachsender Unzufriedenheit die Unterorganisation für die Vertretung von Menschen mit körperlicher Behinderung gegründet – die „Erste österreichische Krüppelarbeitsgemeinschaft“. Interessanterweise wurde der Name bzw. das Wort „Krüppel“ schon im Jahr 1925 kontrovers diskutiert. Aber aus Mangel einer anderen Bezeichnung für Menschen mit Behinderung blieb es dabei.
Der Verein machte es sich zur Aufgabe neben den Kriegsveteranen auch die Gruppe der „Geburts- und Arbeitskrüppel“ zu vertreten und zielte darauf ab, gesetzliche Maßstäbe für Menschen mit Mobilitätseinschränkung zu schaffen, die für alle gelten sollten, nicht nur für die oftmals besser behandelten Kriegsopfer. Nach Schätzungen vertrat der Verein ca. 60.000 Betroffene.
Neben den politischen Aktivitäten setzen sie sich auch für die Integration in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt ein. Sie gründeten neben einer Zeitung mit thematischem Schwerpunkt auch mehrere Werkstätten und Betriebe in Österreich, in denen Menschen mit Behinderung Arbeit finden konnten. Schwerpunkt-Veranstaltung zu div. Fachthemen und Demonstrationen zeigen uns, wie engagiert die Gruppe war. Und das nicht nur national – sie arbeiteten mit ähnlichen Organisationen in ganz Europa zusammen, um Informationen auszutauschen und gemeinsam die bestmögliche Integration von Menschen mit Behinderung zu erreichen.
Die Leitziele der Organisation wurden schließlich in einer Resolution 1926 festgehalten. Doch leider konnten, aufgrund des fehlenden zivilen und politischen Interesses und auch aufgrund der Weltwirtschaftskrise, zum damaligen Zeitpunkt nicht viele der Forderungen umgesetzt werden.

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Der zweite Weltkrieg bedeutete schließlich das Ende der Krüppelgemeinschaft. Der Anschluss an Deutschland wurde, aufgrund der besseren gesetzlichen Grundlage für Menschen mit Behinderung, vorerst noch von der Krüppelarbeitsgemeinschaft sehr begrüßt. Doch nicht viel später wurden sie wie viele andere Vereine in den „Reichsbund der Körperbehinderten“ eingegliedert. Dieser Verein hatte im Grunde genommen keine signifikanten Aktivitäten, da die übergeordnete „NS Volkswohlfahrt“ kein Interesse an Menschen hatte, die aus ihrer Sicht keinen Nutzen aufwiesen. Die Folgen für Menschen mit Behinderung im zweiten Weltkrieg und deren Euthanasie um die „Reinheit des Volkes“ zu gewährleisten ist allgemein bekannt. Auch der Gründer der Österreichischen Krüppel-Arbeitsgemeinschaft wurde davon nicht verschont. 1944 wurde Siegfried Braun im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Bis heute gilt er als Vorreiter der Behindertenbewegung in Österreich.
Doch das Ende der österreichische Krüppelarbeitsgemeinschaft und vieler vergleichbarer Vereine bedeutete nicht, dass der Kampf um Inklusion und Gleichstellung der Menschen mit Behinderung sein Ende fand. Andere Vereine, wie der ÖZIV, KOBV und ÖBV wurden gegründet und setzen die Arbeit basierend auf den schon damals festgehaltenen Forderungen fort. Und bis heute wurden und werden viele Vereine mit denselben Zielen gegründet. Auch wir, der Österreichische Amputiertenverband, sind einer davon.
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Persönliches Resumee des Gründers der Österr. Krüppelarbeitsgemeinschaft:
Siegfried Braun kann als einer der entscheidenden Gründer der österreichischen Behindertenbewegung gesehen werden. Braun schrieb 1934 rückblickend:
„Schon im Jahre 1915 bemühte ich mich, eine Auskunfts- und Beratungsstelle für Krüppel zu errichten [‚Krüppel‘ war damals ein von behinderten Menschen selbst verwendetes normales Wort, Anm. VS]. Aus folgenden Ursachen: Im Jahre 1913 war ich von Olmütz in Mähren nach Wien übersiedelt, in der Hoffnung, daß von den großen Versprechungen, die mir Primarius Dr. Kienast als Leiter des damaligen Krüppelfürsorgevereines ‚Leopoldineum‘ und der berühmte Orthopäde Prof. Lorenz als Leiter der Universitätsklinik machten, wenigstens ein Bruchteil eingelöst werden würden.
Aber von beiden Seiten bekam ich als Abfertigung jene Worte zu hören, die immer als Damoklesschwert über uns Schwerkrüppeln hängen, wenn wir arm sind und keine Angehörigen besitzen, die in eigener Entsagung die schwere Pflicht übernehmen, die eigentlich Aufgabe des Staates und der Gesellschaft sein müßte. ‚Am besten ist es, Sie gehen ins Siechenhaus‘, das war der letzte Rat der Wissenschaft an einen 22 jährigen Menschen. Mich befiel Verzweiflung. Ich sagte mir: ‚Gut, ich geh‘ ins Siechenhaus, aber vorher schaffe ich eine Stelle, die anderen Krüppeln das jahrelange Suchen und dann Zuspätkommen für eine Hilfe nach Möglichkeit erspart.‘ “ (Der Krüppel, 9/10 1934, S. 37-38)
BIZEPS-Artikel und Links zur Ö1 Sendereihe über das Leben und Wirken von Siegfried Braun
Weitere Infos zur Geschichte der österreichischen Behindertenarbeit unter:
https://bidok.uibk.ac.at/projekte/behindertenbewegung/zeitleiste.html